Schulen sind bedeutende soziale Orte moderner Gesellschaften. Die Erwartungen, die Menschen an sie richten, und die Bedeutungen, die sie ihnen geben, gingen und gehen weit auseinander. In der Deutschen Demokratischen Republik sollten Kinder und Jugendliche in ihnen unter anderem politische Weltbilder einüben, soziale und geschlechtliche Barrieren überschreiten sowie staatlich-ökonomischen Anforderungen und Zielen nachkommen.
Im Mittelpunkt meiner Beschäftigung mit den sozialistischen Schulen steht das in den 1970er Jahren über sie Geschriebene und Gesagte – die Erzählakte. Durch sie entsteht eine historiographische Textur der vergangenen Bildungslandschaft, die nach den Verhandlungen von Ungleichheiten befragt wird.
Erste Projektskizze, Januar 2019
Am Anfang des Projektes stand die Feststellung, dass Benachteiligungen junger Christen und Christinnen in der Deutschen Demokratischen Republik zumeist in engem Zusammenhang mit dem sozialistischen Bildungswesen erinnert werden. Deshalb rückt die historische Untersuchung Erzählungen, Praktiken und Strukturen von Ungleichheiten im Bildungssystem in den Mittelpunkt und erforscht (Aus-)Bildungs(um)wege christlicher DDR-Bürger*innen. Hierbei werden unterschiedliche Perspektiven gewählt.
Zum einen rücken anhand privater und staatlicher Überlieferungen institutionengebundene Bildungsübergänge in den Blick. Welche Akteure wirkten bei sozialen, politischen und ideologischen Bevorzugungen und Gegenprivilegierungen lokal zusammen? Wie veränderten sich Ermöglichungs- und Verhinderungskonstellationen vor dem Hintergrund des Wandels der Bildungsinstitutionen zwischen 1961 und 1990? Wie erschufen sich Christ*innen Handlungsspielräume?
Zum anderen werden mithilfe von Zeitzeug*inneninterviews und autobiografischen Schilderungen vielgestaltige individuelle Bildungserinnerungen untersucht. Von welchen Erfahrungen wird wie berichtet? Wie deuten die Befragten die Vergangenheit in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht? Wie interpretieren sie ihre Bildungswege in Bezug auf die Wiedervereinigung 1989/90? Wie gestalten sie ihre Bildungsbiografien bis in die Gegenwart hinein?
In der daran anschließenden Auseinandersetzung sollen Gegensätze und Gemeinsamkeiten von unterschiedlichen Bildungsvorstellungen in der (post)sozialistischen Gesellschaft dargestellt und diskutiert werden. Welche alltäglichen Bildungswirklichkeiten bildeten sich in der Erziehungs- und Fürsorgediktatur heraus? Durch welche Erzählungen und sprachlichen Codes wurden und werden sie abgebildet? Welche alternativen Bildungsverständnisse setzten Akteure dem entgegen?
Im Zuge dessen ist es Ziel des Projektes, zu erforschen, wie durch vielfältige historische und gegenwärtige Akteure widersprüchliche, aber ebenso übereinstimmende, sinnstiftende Geschichten darüber entstehen, was Bildung in der sozialistischen Gesellschaft bedeutete und fortwährend bedeutet.
Exkurs (09/2023–09/2025)
Innerhalb eines vertiefenden Exkurses widme ich mich den Bildungsdebatten in der Bundesrepublik in den späten 1960er Jahren und frage danach, wie sich katholische Akteure in diese einbrachten. Ein kleiner Einblick in die ausgewählte Sekundärliteratur:
Ingrid Miethe, Dominik Wagner-Diehl u. Birthe Kleber, Bildungsungleichheit. Von historischen Ursprüngen zu aktuellen Debatten, Berlin 2021.
Sonja Levsen, Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975, Göttingen 2019.
Nicolai Hannig, Georg Picht. Strategien eines Medienintellektuellen in der westdeutschen Öffentlichkeit, in: VfZ 4/2018, S. 617–644.
Marcel Helbig u. Thorsten Schneider, Auf der Suche nach dem katholischen Arbeitermädchen vom Lande. Religion und Bildungserfolg im regionalen, historischen und internationalen Vergleich, Wiesbaden 2014.
Ludwig von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt a.M. 1992.
Veröffentlichung
Cover des Jahrbuchs
Christliche Jugendliche im Labyrinth der Ungleichheiten. Wege durch die sozialistische Bildungslandschaft der 1970er Jahre
In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte,
75/2023, S. 445–484. (ISBN: 978-3-402-18624-4)
Das Projekt, die in ihm entwickelten Forschungsperspektiven und die inhaltlichen Auseinandersetzungen, sind von der Corona-Pandemie seit März 2020 nicht zu trennen. Nachdem im ersten Jahr (2019) viele Vorarbeiten und Vorrecherchen erledigt werden konnten sowie ein Interviewkonzept für Oral-History-Zugänge konzipiert worden war, unterbrachen die Einschränkungen im Zuge der Ausbreitung des Virus‘ alltägliche Forschungsroutinen und gewohnte Voraussetzungen historischen Arbeitens. Unter anderem die Schließung der Archive, lange Anmeldefristen und weitreichende Unsicherheiten bei Oral-History-Interviews verzögerten nicht nur den Arbeitsprozess, sondern sie veränderten auch die Herangehensweise an das Thema, die Auseinandersetzung mit Bildungswegen, die Möglichkeiten und Perspektiven historiografischer Forschung.
Am Ende des Projektes sehe ich es als meine Aufgabe, über diese Veränderungen kritisch nachzudenken und Rechenschaft abzulegen. Denn es ist unumgänglich, dass die ursprünglichen Forschungsziele angepasst werden müssen.
Eine wichtige Erkenntnis im Arbeitsprozess kristallisierte sich nach den ersten Sichtungen staatlicher Dokumente heraus: die Bildungsbenachteiligungen christlicher Kinder und Jugendlicher können nicht ohne die generellen Ungleichheiten in den Bildungsinstitutionen beschrieben werden. Daher verschob sich im Laufe des Jahres 2021 die Perspektive auf die Deutung und Bedeutung sozialer, kultureller, politischer und geschlechtsspezifischer Ungleichheiten. Religiöse Bindungen und Bekenntnisse durchzogen diese wiederum und beeinflussten Erfahrungen und Erwartungen Einzelner in der sozialistischen Gesellschaft.
Die zentralen Recherchen im Bundesarchiv (Berlin-Lichterfelde) konnten zwischen September 2021 und März 2022 durchgeführt werden. Akteneinsichten im Evangelischen Zentralarchiv ermöglichten weitere wichtige Einblicke in das Thema Ungleichheiten im sozialistischen Bildungswesen.
Schreibaufruf: Ihre Bildungsgeschichte!
Schreibaufruf!
Im Oktober 2020 startete im Rahmen des Projektes ein Schreibaufruf via Pressemeldung und Homepage.
Im Vordergrund standen unter anderem folgende Fragen: Welche Erfahrungen sammelten Christen bei Ihren (Aus‐ und Weiter‐)Bildungsbemühungen und –zielen, beim lebenslangen Lernen im Sozialismus? Was erlebten sie u.a. in der Schule, in Fortbildungen oder beim Studium in der DDR? Welche Erinnerungen haben sie an Bildungsübergänge? Suchten und fanden sie alternative, nicht‐staatliche Bildungsmöglichkeiten?
Oft werde ich gefragt, inwieweit der Begriff Diskriminierung in den 1970er Jahren in der Verwaltung und im Alltag geläufig war. Aus der Erfahrung mit den Überlieferungen antworte ich meist, dass viele Akteure ihn verwendeten. Einen Zugang, der über mein Wissen hinausreicht, bietet das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache.
Neben der zeitlichen Verlaufskurve basierend auf dem Zeitungskorpus ist es möglich, gezielt einen Textkorpus auszuwählen – „Diskriminierung“ im Textkorpus DDR –, der ebenfalls auf offizielle, veröffentlichte Texte verweist.
Trierer Tagung „Theologie und Vergangenheitsbewältigung“
Workshop: Christliche Jugendliche im Labyrinth der Ungleichheiten. Wege durch die sozialistische Bildungsgesellschaft der 1970er Jahre
Januar 2025
Abendvortrag an der Universität Osnabrück Titel: Verflochtene Ungleichheiten – Bildung und Religion in der deutschen sozialistischen Gesellschaft der 1970er Jahre
Unter dem Titel Zwischen Erfahrung und Erinnerung: Bildungs(um)wege christlicher DDR-Bürger*innen von der sozialistischen Gesellschaft bis in die Gegenwart wurde das Projekt im Rahmen des Forschungsverbundes Diktaturerfahrung und Transformation durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.
Im Sommer 2023 finanzierte dankenswerterweise das Bistum Erfurt meine Projektstelle an der Universität Erfurt.
BMBF-Förderung Phase 1
01/2019–12/2022
BMBF-Förderung Phase 1 – Corona-Verlängerung
01/2023–04/2023
BMBF-Förderung Phase 2
10/2023–09/2025
Bistum Erfurt
05/2023–09/2023
Kontaktinformationen
Für Hinweise zum Projekt bin ich stets dankbar. Ebenso freue ich mich über Rückfragen und einen regen Austausch.